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(Verbalen) Aggressionen begegnen: Hinter den Angriff hören

Aktualisiert: 21. Dez. 2024


Schwarzer Hintergrund. Im Vordergrund ein angezündetes Streichholz, das brennt und raucht
Foto von pexels.com

Ist friedlich bleiben wirklich eine Option?


In Situationen, in denen mich jemand (Kursteilnehmende, Kind, Freundin, eine fremde Person, Familienmitglied, jemand auf Social Media) verbal angreift, spüre ich oft sofortigen Widerstand oder den Drang, mich zu verteidigen. Es ist schwierig – und doch möglich – in solchen Momenten hinter den Angriff zu hören. Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), hat das in einer extremen Situation erlebt und geschafft. Er beschreibt in seinem Buch „Gewaltfreie Kommunikation – eine Sprache des Lebens“ diese beeindruckende Geschichte:



Marshall Rosenbergs Erfahrung: „Mörder!“


Möchtest du die folgende Geschichte lieber hören anstatt lesen? Hier ist das möglich.


"Einmal präsentierte ich die GFK in einer Moschee im Flüchtlingslager Deheisha in Bethlehem vor etwa 170 palästinensischen, männlichen Moslems. Die Haltung der Palästinenser gegenüber Amerikanern war zu der Zeit nicht gerade freundlich. Während ich redete, merkte ich plötzlich, wie eine Welle gedämpfter Aufregung durch die Menge ging. „Sie flüstern, dass du Amerikaner bist!“, warnte mich gerade mein Übersetzer, als ein Mann aus dem Publikum aufsprang. Er sah mir direkt ins Gesicht und schrie aus vollem Hals: „Mörder!“ Augenblicklich fiel ein Dutzend Männer mit ihm in einen Chor ein: „Attentäter!“, „Kinderkiller!“, „Mörder!“.

Glücklicherweise war ich in der Lage, meine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was der Mann fühlte und brauchte. In diesem Fall hatte ich einige Anhaltspunkte: Auf meinem Weg in das Flüchtlingslager hatte ich einige leere Tränengasdosen gesehen, die in der Nacht zuvor in das Lager geschossen worden waren. Auf jeder Dose stand deutlich lesbar die Aufschrift „Made in USA“. Ich wusste, dass die Flüchtlinge viel Ärger gegen die Vereinigten Staaten aufgestaut hatten wegen der Versorgung Israels mit Tränengas und anderen Waffen.

Ich sprach zu dem Mann, der Mörder zu mir gesagt hatte:

Ich: Ärgern Sie sich, weil Sie möchten, dass meine Regierung ihre Mittel anders einsetzt? (Ich wusste nicht, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag, entscheidend ist jedoch mein ernst gemeinter Versuch, mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen in Kontakt zu kommen.)

Er: Verdammt noch mal, ja, ich ärgere mich! Sie glauben, wir brauchen Tränengas? Wir brauchen eine Kanalisation und nicht euer Tränengas! Wir brauchen Wohnungen! Wir brauchen ein eigenes Land!

Ich: Sie sind also wütend und hätten gerne Unterstützung, um Ihre Lebensbedingungen zu verbessern und auch für Ihre politische Unabhängigkeit?

Er: Wissen Sie, wie es ist, hier 27 Jahre lang zu leben, so wie ich mit meiner Familie – Kindern und allem? Haben Sie auch nur den blassesten Schimmer, wie das die ganze Zeit für uns ist?

Ich: Das klingt so, als wären Sie sehr verzweifelt und würden sich fragen, ob ich oder jemand anders wirklich verstehen kann, wie es ist, unter solchen Bedingungen zu leben.

Er: Sie wollen das verstehen? Sagen Sie, haben Sie Kinder? Gehen die zur Schule? Haben sie Spielplätze? Mein Sohn ist krank! Er spielt in offenen Abwässern! In seiner Klasse gibt es keine Bücher! Haben Sie schon mal eine Schule gesehen, die keine Bücher hat?

Ich: Ich höre, wie weh es Ihnen tut, Ihre Kinder hier aufzuziehen; Sie möchten, dass ich verstehe, dass Sie wollen, was alle Eltern für ihre Kinder wollen – eine gute Ausbildung, Möglichkeiten zum Spielen und in einer gesunden Umgebung aufwachsen ...

Er: Stimmt genau, die Grundbedingungen! Menschenrechte – nennt ihr Amerikaner es nicht so? Warum kommen nicht mehr von euch hierher und schauen sich an, welche Art von Menschenrechten ihr uns bringt!

Ich: Sie hätten gerne, dass sich mehr Amerikaner über das Ausmaß des Leids hier klar werden und sich die Konsequenzen ihrer politischen Entscheidungen genauer überlegen?

Unser Dialog ging noch weiter; er brachte fast 20 Minuten lang seinen Schmerz zum Ausdruck, und ich hörte auf die Gefühle und Bedürfnisse hinter jeder Aussage. Ich stimmte nicht zu und lehnte nicht ab. Ich nahm seine Worte auf, aber nicht als Angriffe, sondern als Geschenke eines Mitmenschen, der bereit ist, sein Innerstes und seine tiefe Verletzlichkeit mit mir zu teilen.

Sobald sich der Mann verstanden fühlte, konnte er mir zuhören, als ich den Grund meiner Anwesenheit im Lager erläuterte. Eine Stunde später lud mich derselbe Mann, der mich Mörder genannt hatte, zu einem Ramadan-Essen nach Hause ein."

Marshall Rosenberg sitzt auf einem Stuhl und hat je eine Wolfs- und Giraffenhandpuppe an der Hand.
Rosenberg, M. (1990). Marshall Rosenberg. Foto von A. Michael. Lizenz: Creative Commons Attribution-ShareAlike 3.0 Unported.


Wie geht das?


Ich finde es beeindruckend – und unglaublich herausfordernd – mit dieser Haltung der Gewaltfreien Kommunikation in Situationen zu bleiben, die so emotional aufgeladen sind.

Rosenbergs Technik basiert darauf, die „richtig-falsch“-Brille abzulegen und stattdessen durchzuatmen und sich zu fragen:


„Was fühlt und braucht diese Person gerade?“


Die Technik, welche Rosenberg anwendet nennt er "Empathie": Aufmerksam zuhören und laut zu vermuten, welche Gefühle und Bedürfnisse hinter dem Angriff stecken. Diese Technik geht Hand in Hand mit einer Haltung. Nämlich: hinter jeder Kritik und jedem Angriff steckt ein unerfülltes Bedürfnis. Ich versuche also, den Fokus nicht darauf zu haben, ob ich dem Gegenüber zustimme oder nicht, wer Recht oder Unrecht hat, was richtig oder falsch ist... sondern mein Fokus liegt auf dem Bedürfnis, das gerade zu kurz kommt:


"Ärgern Sie sich, weil Sie möchten, dass meine Regierung ihre Mittel anders einsetzt?"

"Das klingt so, als wären Sie sehr verzweifelt, und würden sich fragen, ob ich oder jemand anders wirklich verstehen kann, wie es ist, unter solchen Bedingungen zu leben."



Warum ich das schwierig finde – und warum es sich lohnt


Selbst nach vielen Jahren des Übens nehme ich Kritik oder Aggression persönlich. In solchen Momenten ist es alles andere als leicht, offen zu bleiben.


Was mir dann hilft:

  1. Mir bewusst zu machen, dass der Angriff selten „gegen mich“ gerichtet ist, sondern ein Ausdruck von Verzweiflung, Ärger oder Schmerz ist.

  2. Mich daran zu erinnern, dass ich nicht zustimmen muss, um den anderen zu verstehen. Ich kann komplett anderer Meinung sein und trotzdem auf die Bedürfnisse hören.

  3. Zu wissen, dass es oft ausreicht, wenn eine Person ruhig bleibt und nicht in den Streit einsteigt.



Selbstempathie: Mir selbst Zeit geben


Bevor ich überhaupt in der Lage bin, auf die Bedürfnisse und Gefühle meines Gegenübers zu hören, braucht es oft einen entscheidenden Schritt: Selbstempathie. Denn wie soll ich ruhig und klar bleiben, wenn ich selbst innerlich brodle oder überfordert bin?


Selbstempathie bedeutet:

  • Mir selbst Zeit zu geben.

  • Durchzuatmen und zu schauen: Wie geht es mir gerade? Was fühle ich? Was brauche ich in diesem Moment?

  • Zu erkennen, was mir möglich ist und was nicht.


Manchmal reicht ein einziger bewusster Atemzug, um mich zu beruhigen. In anderen Momenten hilft es mir, innerlich zu sagen:

  • „Das war gerade viel für mich.“

  • „Ich merke, dass ich selbst gerade wütend, traurig oder erschöpft bin.“

  • „Ich bin noch nicht bereit zu antworten – und das ist okay.“




Selbstempathie als Basis für Dialog


Indem ich mir selbst erlaube, meine Gefühle wahrzunehmen und anzuerkennen, schaffe ich inneren Raum. Erst dann kann ich mich auf die Bedürfnisse der anderen Person einlassen – ohne mich selbst zu verlieren oder zu überfordern.


💡 Tipp: Wenn du merkst, dass Selbstempathie gerade notwendig ist, sage es ruhig laut:„Ich brauche kurz einen Moment für mich, bevor ich darauf antworten kann.“

Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke und Klarheit. Denn auch das gehört zur Gewaltfreien Kommunikation: Zuallererst mit mir selbst verbunden zu sein, bevor ich anderen Empathie schenken kann.



Übung und Geduld macht den Unterschied


Rosenberg selbst war nicht von heute auf morgen in der Lage, so zu reagieren – Niemandem könnte das gelingen. Das ist auch nicht das Ziel. Es braucht Übung. Hier ein paar Schritte, die mir geholfen haben:


  • Zuhören ohne Eingreifen: Starte mit „neutralen“ Situationen. Höre jemandem einfach zu, ohne zu bewerten oder zu kommentieren.

  • Gefühle und Bedürfnisse still wahrnehmen: Überlege für dich, was der andere gerade fühlen oder brauchen könnte.

  • Nachfragen wagen: Stelle eine einfache Frage, um nach dem Bedürfnis zu suchen: „Habe ich das richtig verstanden, dass dir ... wichtig ist?“

  • Langsam steigern: Probiere es in kleinen Konflikten aus – und sei nachsichtig mit dir, wenn es nicht perfekt gelingt.



Warum dranbleiben?


Es gibt Tage, da klappt es bei mir hervorragend: Ich höre zu, bleibe ruhig und schaffe eine echte Verbindung. An anderen Tagen scheitere ich grandios und frage mich, ob ich überhaupt als Kommunikationstrainerin arbeiten sollte.

Trotzdem bleibe ich dran. Denn ich habe erlebt, was passiert, wenn ich nicht in die Verteidigung gehe, sondern auf das hören, was unter der Wut oder Kritik steckt:


💡 Es entsteht Verbindung statt Eskalation.

Manchmal reicht ein einziger Mensch, der bereit ist, zuzuhören und nicht in den Streit einzusteigen, um Frieden zu schaffen.



Einladung zum Ausprobieren


Probier es aus – Schritt für Schritt. Es ist nicht einfach, aber jede kleine Erfahrung zählt. Sei geduldig mit dir selbst und feiere die Erfolge, so klein sie auch sein mögen.

Jedes Wort zählt. Es lohnt sich.

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