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Vorurteile: Schubladen im Kopf

  • NBJ Coaching und Seminare
  • 1. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 5. Okt.

Stell dir vor: Du betrittst einen Raum, siehst eine Person, die du nicht kennst und hast sofort ein Urteil im Kopf. „Der ist arrogant.“ oder „Die versteht sicher nichts von Technik.“ Solche spontanen Einschätzungen sind menschlich. Sie haben einen Sinn. Sie können aber auch belasten und zerstören; im ganz Kleinen bis zum Globalen.

Ungefähr 8 Finger zeigen auf eine Person, die mit gesenktem Kopf in der Mitte des Fotos steht.
Foto: yankrukov via pexels.com

Was sind Vorurteile?

In der sozialpsychologischen Literatur bezeichnet man als "Vorurteil" eine negative oder positive Haltung gegenüber Personen, Gruppen, Objekten oder Sachverhalten, die weniger auf direkter Erfahrung als vielmehr auf Generalisierung beruht (Quelle). Oder einfacher gesagt: Ein Vorurteil ist ein Urteil über Personen oder Sachverhalte, das ohne wirkliches Wissen gebildet wird, verbunden mit einer meist wertenden Zuschreibung (Quelle).


Marshall Rosenberg schrieb dazu:

„Die meisten von uns hören eine moralische Bewertung, wenn wir eigentlich nur den Ausdruck eines Bedürfnisses hören könnten.“

(Zitat aus: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. 6. Auflage. Paderborn: Junfermann Verlag.)


Vorurteile sind also schnelle Bewertungen, oft unbewusst und ohne Bezug zur konkreten Situation, den individuellen Erfahrungen mit dem Gegenüber oder dem Bewusstsein zum darunter liegenden Bedürfnis/Wert.



Warum das Gehirn vorschnell urteilt

Die Neurowissenschaft geht davon aus, dass Vorurteile nicht entstehen, weil wir „schlechte Menschen“ sind, sondern weil unser Gehirn Abkürzungen nimmt. Der Sozialneurowissenschaftler Matthew D. Lieberman beschreibt:

Unser Gehirn ist darauf programmiert, andere Menschen blitzschnell einzuschätzen – noch bevor wir uns dessen bewusst sind.

Lieberman, Matthew D. (2013): Social. Why Our Brains Are Wired to Connect. New York: Crown.


Diese schnellen Einschätzungen halfen unseren Vorfahren, Gefahren zu erkennen und zu überleben. Wer im Bruchteil einer Sekunde entscheiden konnte, ob eine fremde Person eine Bedrohung darstellte, hatte einen evolutionären Vorteil.

Heute jedoch haben dieselben Automatismen oft problematische Folgen: Wir stecken Menschen in Schubladen; nach Aussehen, Beruf, Herkunft oder Verhalten. Dabei übersehen wir ihre Individualität.


Das Stereotype Content Model: Wärme und Kompetenz


Vier-Felder-Diagramm zum Stereotype Content Model


Eine bekannte Theorie aus der Sozialpsychologie ist das Stereotype Content Model. Es macht Aussagen darüber, anhand welcher Kriterien soziale Gruppen kategorisiert werden – und damit auch, welche Erwartungen an sie bestehen:

  • Wärme: Wir fragen uns unbewusst: „Ist diese Person mir freundlich gesinnt oder feindlich?“

  • Kompetenz: Gleichzeitig prüfen wir: „Kann diese Person etwas? Ist sie fähig oder unfähig?“



Kombiniert ergeben sich vier typische "Schubladen":

1) hoch in Wärme, hoch in Kompetenz → Bewunderung (z. B. Kollegin, die hilfsbereit und kompetent wirkt)

2) hoch in Wärme, niedrig in Kompetenz → Mitleid (z. B. ältere Menschen, die freundlich erscheinen, aber „hilfsbedürftig“ wirken)

3) niedrig in Wärme, hoch in Kompetenz → Neid (z. B. erfolgreiche Personen, die „kalt“ wahrgenommen werden)

4) niedrig in Wärme, niedrig in Kompetenz → Verachtung (z. B. Gruppen, die stigmatisiert werden)


Beispiele

Im Beruf: Eine neue Kollegin spricht mit Akzent. Mögliches Vorurteil: „Sie versteht sicher nicht alles.“ → Urteil nach Kompetenz-Achse.


Im öffentlichen Raum: Jemand lacht laut im Tram. Möglicher Gedanke: „Der ist unhöflich.“

→ Urteil nach Wärme-Achse.


In der Familie: Ein Teenager zieht sich zurück. Mögliches Vorurteil: „Er ist respektlos.“

→ Schublade „kalt“.


Solche Urteile passieren in Millisekunden und bevor wir bewusst reflektieren. Bleiben wir bei diesen Einteilungen, beeinflussen sie, wie wir reagieren; ob wir etwa Vertrauen schenken, Unterstützung geben oder uns abgrenzen.



💡 Und jetzt? Was tun mit diesen Vorurteilen?

Vorurteile sind nicht einfach „wegzudiskutieren“. Wir können lernen, sie wahrzunehmen und bewusster damit umzugehen. Beispielsweise durch folgende Schritte:


1. Innehalten und beobachten

Wenn du merkst, dass ein Urteil im Kopf auftaucht, atme ein paar Mal durch und stell dir die Frage: „Was habe ich konkret gesehen/ gehört/ gerochen?“

Statt: „Mein Kollege ist faul.“

Beobachtung: „Er hat die letzten beiden Berichte nach Abgabeschluss eingereicht.“


2. Eigene Gefühle klären

Gefühle sind Signale unserer Bedürfnisse. Wer Vorurteile hinterfragt, kann sich fragen: „Wie fühle ich mich gerade?“

Beispiel: „Wenn jemand für mich hörbar im Tram telefoniert, bin ich genervt.“


3. Bedürfnisse erkennen

Frag dich: „Welches Bedürfnis steckt hinter meinem Gefühl?“

Zum Beispiel:

  • Im Beruf

Situation: Eine Kollegin kommt wiederholt 10 Minuten zu spät ins Meeting.

Spontanes Vorurteil: „Die ist unzuverlässig und respektlos.“

Gefühl: Ärger, Ungeduld.

Bedürfnis: Zuverlässigkeit und Effizienz.


  • In der Familie

Situation: Der Teenager antwortet knapp oder gar nicht, wenn eine Frage gestellt wird.

Spontanes Vorurteil: „Er/sie ist respektlos.“

Gefühl: Frust, Traurigkeit.

Bedürfnis: Respekt und Austausch.


  • Im öffentlichen Raum

Situation: Im Zug telefoniert jemand so laut, dass ich alles mithören kann.

Spontanes Vorurteil: „Die Person ist rücksichtslos.“

Gefühl: Genervt, angespannt.

Bedürfnis: Ruhe und Rücksicht.



4. Eine Bitte formulieren

Statt in der Schublade zu bleiben, können wir eine konkrete, machbare Bitte aussprechen:


Beruf: „Bist du bereit zu vereinbaren, dass die Berichte bis spätestens Donnerstagmittag abgegeben werden?“

Familie: „Ich wünsche mir, dass du mir antwortest, wenn ich dich anspreche. Wie geht es dir mit meinen Fragen?“

Öffentlicher Raum: „Könnten Sie bitte etwas leiser sprechen, damit ich lesen kann?“


Diese Schritte kannst du auch anwenden, wenn du denkst, dass jemand anderes gerade ein Vorurteil ausgesprochen hat oder aufgrund eines Vorurteils reagiert/handelt. Anstatt die Person zu korrigieren (das führt meistens zu Defensive und Verschlossenheit), kannst du durch empathische, wohlowollende oder neugierig-freundliche Fragen herauszufinden versuchen, was für Bedürfnisse oder Erfahrungen hinter dem Voururteil stecken. Wichtig: Bleibe haltungsmässig auf Augehöhe.


💡 Weitere Strategien im Alltag

Auch folgende Ansätze können funktionieren. Wichtig ist, geduldig mit sich zu sein, denn jahre- oder jahrzehntelange gelebte Muster können nicht von heute auf morgen geändert werden:


Neugier statt Urteil: Stelle Fragen, z.B. „Wie meinst du das?“


Perspektivwechsel üben: Überlege, welche Lebensumstände das Verhalten erklären könnten


Selbstempathie anwenden: Auch das eigene Urteil wahrnehmen, ohne sich dafür zu verurteilen: „Aha, da war mein Automatismus aktiv“


Bewusstheit trainieren: Kleine Pausen einbauen, bevor du reagierst. Das unterbricht die Automatik.



Beispiele:

Wenn mein Vorurteil ist: „Die Chefin ist unnahbar.“ könnte ich ihr stattdessen sagen: „Ich würde mir mehr Austausch wünschen. Hätten Sie nächste Woche 15 Minuten für ein Gespräch?“


Beim Vorurteil: „Mein Teenager ist respektlos.“ könnte ich sagen: „Ich fühle mich unsicher und auch genervt, wenn du nicht antwortest. Ich brauche eine Rückmeldung. Könntest du mir kurz sagen, ob was bei dir gerade innerlich abgeht?“


Wenn ich denke: „Die neuen Nachbarn sind laut." könnte ich in die Selbstreflexion gehen und mich fragen: „Stimmt das wirklich? Oder merke ich einfach, dass ich grundsätzlich müde bin und Ruhe brauche? Will ich die Nachbarn ansprechen oder ist eine andere Strategie zielführender?“


Vorurteil: „Diese Person ist unhöflich.“ Innerlich: „Ich merke, ich ärgere mich. Mein Bedürfnis ist Respekt. Vielleicht weiss die Person nicht, wie sie wirkt. Was möchte ich tun?“


Probier es aus!

Anstatt dass wir uns also Vorurteile zu haben verbieten oder uns (und andere) dafür verurteilen, ist es meiner Ansicht nach hilfreicher, sie als Teil unserer Wahrnehmung zu sehen, als Hinweis darauf, dass uns etwas wichtig ist. Entscheidend ist, ob wir bei der vorschnellen Schublade stehen bleiben oder ob wir sie als Einladung nehmen, genauer hinzusehen:


  • Was habe ich wirklich beobachtet?

  • Wie fühle ich mich dabei?

  • Welches Bedürfnis steckt dahinter?

  • Und welche Bitte oder Handlung wäre hilfreich?


Wenn wir diese Fragen stellen, gewinnen wir Abstand zu unseren Automatismen. Wir können in Verbindung gehen; mit uns selbst und mit anderen. So verlieren Vorurteile ihre Macht und können zu einem Ausgangspunkt für Verständnis, Klarheit und Empathie werden.

 
 
 

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Nadia Biondini Jörg           Coaching und Seminare           3084 Wabern bei Bern
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