Ich habe in meinem Blog bereits die ersten drei Elemente der Gewaltfreien Kommunikation vorgestellt:
Das vierte und letzte Element ist die Bitte.
Das Ziel der Gewaltfreien Kommunikation ist durch Worte Verbindung herzustellen. Eine der Grundannahmen der Gewaltfreien Kommunikation: wir alle tragen gerne zur Erfüllung unserer eigenen Bedürfnisse und jener unseres Umfelds bei, sofern wir das freiwillig tun können. In diesem Sinne ist die Bitte als letzter Schritt ideal. Ich sage meinem Gegenüber, was konkret es tun könnte, um mein Bedürfnis von Schritt 3 zu erfüllen.
Bitte versus Forderung
Worin unterscheidet sich die Bitte von der Forderung? Durch das Wort "Bitte"? Indem ich den Satz als Frage formuliere? Marshall Rosenberg sagt, dass der Unterschied nicht in der Wortwahl oder Satzstellung zu finden ist, sondern einzig und allein in der Reaktion der bittenden Person, wenn das Gegenüber "Nein" sagt.
Wenn ein "Nein" als Antwort genauso ok ist, wie ein "Ja", ist es eine Bitte.
Wenn ein "Nein" sanktioniert wird, ist es eine Forderung.

Wenn jemand mir sagt (oder ich selbst mir sage), dass ich etwas tun muss/sollte/müsste, ist es vorbei mit der Freiwilligkeit und somit auch mit der Freude, es zu tun. Fakt ist also: Wenn ich etwas fordere, kann ich von Widerstand ausgehen.
"Heisst das jetzt, ich soll nur noch um Dinge bitten?"
"Aber dann funktioniert ja gar nichts mehr!"
"So läuft es in der Welt aber nicht! Manchmal muss man Dinge einfach tun."
Darüber lohnt es sich, nachzudenken. Auf jeden Fall ist es günstig, die Definition und verschiedenen Arten von Bitten zu kennen und damit herumzuexperimentieren. Meine Erfahrung ist, dass ich Forderungen oft durch Bitten ersetzen kann und im Dialog zu Lösungen komme, die für alle Beteiligten passen. Meistens nimmt das kurzfristig etwas mehr Zeit in Anspruch, dafür spare ich mir auf die Länge Kämpfe, Diskussionen und Unzufriedenheit. Wenn ich mich entscheide, etwas zu fordern, nehme ich den Widerstand in Kauf. Und: wenn ich mich entscheide, zu fordern, dann formuliere ich die Forderung auch als Forderung. Als "Bitte verkleidete Forderungen" wirken manipulativ und führen zu Irritationen.
Theorie zur Bitte
In der Gewaltfreien Kommunikation ist die Bitte nichts anderes, als meine Lieblingsstrategie. Die Definition von "Strategie" findest du hier. Sie ist in positiver Handlungssprache formuliert ("Ich möchte, dass Sie zuerst das komplette Protokoll lesen und mir anschliessend Fragen stellen" anstatt "Ich möchte, dass sie damit aufhören, Dinge zu fragen, die im Protokoll stehen") und unterscheidet sich von einem Wunsch ("Könntest du zuverlässiger sein?"), indem sie dem Gegenüber konkret Auskunft darüber gibt, was genau es jetzt tun soll ("Kannst du mir jetzt sagen, wann du die Bücher abholen gehst?").

Auch die drei Bitten-Typen sind nützlich:
Die Handlungsbitte
Das Gegenüber soll etwas tun: “Können Sie mir sagen, ob Sie den Bericht bis um 16:00 fertigstellen können?”
Die Beziehungsbitte
Das Gegenüber soll nicht primär etwas tun, sondern ich möchte eine Rückmeldung bezüglich unserer Beziehung: "Können Sie mir sagen, wie es Ihnen mit der Situation geht?"
Die Verständnisbitte
Eine eher ungewohnte Bitte, die sich vor allem dann lohnt, wenn es in der Vergangenheit mit der Person kommunikative Missverständnisse gab. Ich empfehle, diese Bitte mit einem Satz "anzukündigen", z.B.: "Da ich sicher sein möchte, dass ich ausdrücken konnte, was ich meine: Könntest du mir sagen, was du von mir gehört hast?"
Andere Möglichkeiten, die etwas sperrige Verständnisbitte zu formulieren:
"Kannst du mir kurz rückmelden, was du gehört hast? Nur damit wir sicher auf dem gleichen Stand sind"
"Wie kommt das bei dir an? Kannst du mir sagen, was du gehört hast?"
"Ich möchte sicher sein, dass wir vom Gleichen sprechen – was hast du gerade von mir gehört?"
"Hey, kannst du mir schnell sagen, was bei dir angekommen ist? Ich will sicher sein, dass ich es gut gesagt habe."

Und falls dann die Person "nein" sagt, ist das nicht Ende des Gesprächs, sondern "lediglich" ein "Ja zu etwas anderem". Mit dieser Haltung ist es möglich, nach einem gemeinsamen "Ja" zu suchen. Vor allem hilft sie auch, ein "Nein" weniger persönlich zu nehmen. Eine Bitte, die ich bei einem "Nein" besonders mag: "Haben Sie eine Idee, wie wir das lösen können?".
Ein paar Beispiele aus dem Alltag
👉 Mit Teens: Ein Elternteil bittet das Kind, den PC pünktlich auszuschalten. Wenn die Haltung genervt ist („Wie oft muss ich dir das noch sagen?!“), folgt oft Widerstand. Wenn die Bitte offen formuliert und eventuell begründet wird („Mir ist es wichtig, dass deine Augen und dein Hirn eine Pause haben. Was würde dir helfen, es rechtzeitig zu tun?“), entsteht oft eine Lösung, die für beide funktioniert – wie z. B. zwei Wecker: einer als Vorwarnung, einer als klares Stopp-Signal.
👉 Im Team: Ein Teammitglied hält sich nicht an eine abgesprochene Deadline. Eine Forderung wie „Du hättest das längst abgeben müssen!“ erzeugt oft Abwehr oder Rechtfertigung. Eine echte Bitte könnte lauten: „Ich hatte mit dem Abgabetermin gerechnet, weil ich darauf aufbauen muss. Magst du mir sagen, wann du es realistisch fertigstellen kannst oder wie wir das gemeinsam lösen können?“ So bleibt das Gespräch lösungsorientiert statt konfrontativ.
👉 Mit einer vorgesetzten Person: Eine Führungskraft gibt kurzfristig eine zusätzliche Aufgabe. Ein innerer Widerstand könnte lauten: „Das kann ich nicht auch noch stemmen, das ist unfair!“ Anstatt mit einer Forderung zu reagieren („Das geht so nicht!“) oder nichts zu sagen und die Faust im Sack zu machen, könnte eine echte Bitte lauten: „Mir ist wichtig, meine aktuellen Aufgaben gut zu erledigen. Könnten wir anschauen, was Priorität hat, damit ich realistisch planen kann?“ Das signalisiert Kooperationsbereitschaft und setzt auch Grenzen.
👉 Mit Kleinkindern: Das Kind weigert sich, die Jacke anzuziehen. Eine typische Reaktion wäre: „Zieh die Jacke an, es ist kalt!“ – was oft zu Trotz führt. Eine Möglichkeit aus der GFK-Perspektive wäre, das Bedürfnis hinter der eigenen Bitte zu reflektieren: „Geht es mir um Schutz, Gesundheit oder um Kontrolle?“ Wenn ich entspannt bleiben kann, kann ich stattdessen sagen: „Ich nehme deine Jacke mit. Falls dir kalt wird, kannst du sie anziehen.“ So kann das Kind selbst eine Erfahrung machen, ohne dass es in einen Machtkampf gerät.
In manchen Situationen ist eine Wahlmöglichkeit sinnvoll (z. B. „Willst du die blaue oder die rote Jacke?“), aber oft hilft es, einfach Vertrauen zu haben und auf die natürliche Konsequenz zu setzen.
👉 Mit erwachsenen Eltern: Viele kennen die Herausforderung, wenn Eltern im Alter Unterstützung brauchen, aber keine Hilfe annehmen wollen. Eine Forderung wäre: „Du musst dich endlich mal um eine Haushaltshilfe kümmern!“ – oft gefolgt von Ablehnung. Eine echte Bitte könnte sein: „Mir ist es wichtig, dass du Unterstützung hast. Wäre es für dich okay, wenn ich ein paar Möglichkeiten raussuche und wir gemeinsam überlegen, was für dich passt?“ Das lässt Raum für ein „Nein“, aber oft auch für eine konstruktive Lösung.
👉 Mit Partnerinnen und Partnern: In Beziehungen führt die Haltung „Er/sie nimmt mich nicht ernst“ oft zu Vorwürfen: „Du hörst mir nie richtig zu!“ Eine offene Bitte wie „Magst du mir kurz sagen, was du von mir gehört hast? Ich will sicher sein, dass ich mich klar ausgedrückt habe.“ kann stattdessen die Gesprächsdynamik sofort verändern.
👉 Mit Freundinnen und Freunden: Eine Person reagiert anders als erwartet – früher hätte das vielleicht zu Groll geführt („Interessiert sie sich überhaupt für mich?“). Eine offene Bitte kann helfen: „Ich habe den Eindruck, du bist gerade nicht ganz bei der Sache – beschäftigt dich etwas?“ Das schafft Verbindung statt Distanz.
👉 Mit Kundinnen und Kunden: Eine Kundin erwartet eine schnellere Lösung als realistisch machbar. Statt sich zu rechtfertigen, kann eine Bitte die Situation entspannen: „Ich höre, dass es Ihnen wichtig ist, das schnell zu klären. Mögen Sie mir sagen, was für Sie die grösste Herausforderung dabei ist?“ Dadurch entstehen oft praktikable Lösungen.
👉 Mit Auftraggebenden: Eine Offerte wird erstellt – aber es kommt keine Rückmeldung. Das kann sich nach fehlender Wertschätzung anfühlen. Ein Haltungswechsel kann helfen: „Schweigen bedeutet nicht automatisch Geringschätzung.“ Vielleicht haben sich Prioritäten verschoben oder es wurde jemand anderes gewählt. Das ändert zwar nichts an der Situation, aber an der emotionalen Belastung.
Und ja – es gibt täglich Situationen, in denen es nicht gelingt: Wenn Müdigkeit, Stress oder alte Muster übernehmen, rutscht doch mal eine Forderung oder ein Vorwurf raus. Das gehört dazu. Wichtig ist nicht Perfektion, sondern Bewusstheit und Lernbereitschaft.
Was sind deine Erfahrungen mit Bitten im Alltag?
Weitere Infos und Beispiele zur "Bitte" in der Gewaltfreien Kommunikation gibt es bei Al Weckert und am nächsten Einführungsseminar für Gewaltfreie Kommunikation.
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