Beide Ansätze konzentrieren sich auf zwischenmenschliche Beziehungen und sind insbesondere für Eltern und Lehrpersonen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen hilfreich. Was steckt hinter den Begriffen? Welche sind die Gemeinsamkeiten und worin unterscheiden sich die Konzepte? Diesen Fragen gehe ich anhand von Beispielen nach.
Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg:
„Verstehen statt Verurteilen – durch Empathie zu Verbundenheit“
Die GFK ist ein Kommunikationsmodell und eine Haltung, die darauf abzielen, empathische Verbindungen zwischen Menschen zu fördern und Konflikte konstruktiv zu lösen. Sie basiert auf vier Komponenten:
Beobachtung: Objektive Beschreibung dessen, was passiert, ohne Bewertung.
Gefühle: Ausdruck der eigenen Gefühle in Bezug auf die Beobachtung.
Bedürfnisse: Identifikation der zugrunde liegenden Bedürfnisse, die die Gefühle verursachen.
Bitten: Formulierung konkreter Bitten, um die Bedürfnisse zu erfüllen.
Beispiel mit GFK:
Eine Mutter bemerkt, dass ihr Sohn seine Hausaufgaben nicht macht.
Beobachtung: „In dieser Woche hast du, gemäss Agenda, an drei Tagen deine Hausaufgaben nicht gemacht.“
Gefühl: „Ich bin besorgt.“
Bedürfnisse: „Ich möchte sicherstellen, dass du die bestmöglichen Chancen für deine Zukunft hast.“
Bitte: „Kannst du mir sagen wie es dir diese Woche mit den Hausaufgaben ergangen ist?“
Hier bleibt die Kommunikation offen und respektvoll, ohne Vorwürfe. Der Fokus liegt darauf in Kontakt zu kommen und zu sagen/hören, wie es den Beteiligten mit einer Situation geht.
Neue Autorität nach Haim Omer:
„Präsenz zeigen, Beziehung stärken – mit Klarheit und Unterstützung führen“
Die Neue Autorität ist ein systemischer Ansatz, der darauf abzielt, die Präsenz und das Engagement von Erwachsenen in Führungspositionen zu stärken. Statt Machtkämpfe oder strikte Kontrolle geht es darum, Kindern und Jugendlichen Halt zu geben. Sie basiert auf den Prinzipien des gewaltlosen Widerstands und umfasst:
Präsenz: Erwachsene sollen für ihre Kinder stets ansprechbar und emotional präsent sein. Dies gibt den Kids Sicherheit.
Selbstkontrolle: Vermeidung von Strafen, Eskalationen und Machtkämpfen. Dafür Gelassenheit und Beharrlichkeit.
Netzwerkbildung: Eltern und Lehrpersonen holen sich Unterstützung durch ein Netzwerk aus Familie, Freunden und auch professionellen Helfern.
Wachsame Sorge: Die Erwachsenen sind aufmerksame Beobachter, die handeln, wenn die Sicherheit oder das Wohl des Kindes gefährdet ist.
Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit: Eltern oder Lehrpersonen müssen sich nicht sofort durchsetzen, sondern bleiben langfristig beharrlich, um ihr Ziel zu erreichen.
Gleiches Beispiel, diesmal mit der Neuen Autorität
Eine Mutter bemerkt, dass ihr Sohn immer seine Hausaufgaben nicht macht.
Präsenz zeigen: Die Mutter bleibt ruhig und anwesend, signalisiert, dass sie den Sohn beobachtet und sich um die Situation kümmert.
Deeskalation: Anstatt den Sohn sofort zu bestrafen oder zu schimpfen, signalisiert die Mutter ihre Beharrlichkeit und bietet Unterstützung an, etwa durch gemeinsame Hausaufgabenzeiten.
Netzwerk nutzen: Die Mutter könnte sich mit der Lehrperson, anderen Eltern oder einer Beratungsperon abstimmen, um zusätzliche Unterstützung für den Sohn zu bekommen.
Beharrlichkeit: Sie bleibt standhaft und zeigt, dass sie nicht aufgibt, auch wenn der Sohn sich zunächst sträubt. Wichtig ist hier, dass der Sohn merkt, dass die Mutter ihm gegenüber standhaft ist, ohne dass es zu einem Machtkampf kommt.
Parallelen und Gemeinsamkeiten
Aus meiner Sicht sind das vor allem folgende Elemente:
Fokus auf Beziehungen: Beide Ansätze legen grossen Wert auf die Qualität der Beziehungen. GFK fördert Empathie und Verständnis, während die Neue Autorität auf Präsenz und Unterstützung setzt.
Gewaltlosigkeit: Beide Methoden lehnen Gewalt und Zwang ab und setzen auf respektvolle und konstruktive, beharrliche Kommunikation.
Selbstreflexion: Sowohl GFK als auch die Neue Autorität betonen die Bedeutung der Selbstreflexion und der inneren Haltung der Erwachsenen. Sie betonen die Bedeutung des Verstehens der eigenen Bedürfnisse und Gefühle sowie der des Gegenübers.
Konzept der Macht: Beide Ansätze meiden "Macht" nicht, sondern definieren sie anders als alltagsüblich: die Neue Autorität sieht Macht als wichtiges Konzept an, allerdings nicht in Form von Zwang, sondern durch emotionale Standhaftigkeit und Präsenz. Die GFK fördert "Macht mit Menschen" anstatt "Macht über Menschen" und meint damit eine lebensbereichernde "Wirksamkeit".
Unterschiede
Ansatz: GFK arbeitet als Kommunikationsmodell vordergründig auf individueller Ebene. Es setzt stark auf den sprachlichen Austausch und das Verstehen der Bedürfnisse beider Seiten. Die Neue Autorität ist ein systemischer Ansatz, der die gesamte Gemeinschaft einbezieht und stärker auf Verhalten und Präsenz, weniger auf explizite Kommunikation fokussiert. Dieser Unterschied bezieht sich nicht auf die GFK als Haltung. Haltungsmässig will die GFK in die gleiche Richtung wie die Neue Autorität.
Methoden: GFK als Methode verwendet spezifische Kommunikationswerkzeuge, während die Neue Autorität auf Präsenz, Selbstkontrolle und Netzwerkbildung setzt. GFK als Haltung fokussiert auf Empathie und das Nachvollziehen der eigenen Bedürfnisse und jener des Gegenübers.
Zielgruppe: GFK kann in allen zwischenmenschlichen Beziehungen angewendet werden, während die Neue Autorität speziell für Führungsrollen in Familien, Schulen und Gemeinschaften entwickelt wurde.
Emotionale Reaktionen: Die GFK fördert das klare Ausdrücken von Emotionen und Bedürfnissen. Die Neue Autorität legt den Schwerpunkt auf Selbstkontrolle und das Vermeiden impulsiver Reaktionen.
Kann man sie kombinieren?
Ich finde: ja, und wie!
Eine Kombination der beiden Ansätze kann besonders effektiv sein, um eine unterstützende und respektvolle Umgebung zu schaffen, die sowohl Empathie als auch Standhaftigkeit fördert:
Gewaltfreie Kommunikation als Grundlage der Interaktion: Eltern und Lehrpersonen können die Prinzipien der GFK nutzen, um offene, wertschätzende Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen zu führen. Sie können ihre Gefühle und Bedürfnisse klar formulieren und gleichzeitig die des Kindes anhören und verstehen (verstehen muss nicht heissen, einverstanden zu sein).
Neue Autorität zur Ergänzung der Erziehungsstrategie: Die Prinzipien der Neuen Autorität können die GFK ergänzen, indem Eltern lernen, auch in schwierigen Situationen präsent zu bleiben und ihre Entschlossenheit zu zeigen. Dies fördert Stabilität und Sicherheit im Begleitungssprozess von Kids und Teens.
Wichtig: Meines Erachtens ist das Konzept der Selbstempathie nach GFK oder generell der Selbstfürsorge eine Voraussetzung, um Neue Autorität leben zu können. Denn wer nicht zuerst für sich selbst sorgt, kann kein präsenter, deeskalierender Erwachsener sein.
Hier zwei Beispiele, wie dies in der Praxis aussehen könnte:
Stellen wir uns eine Situation vor, in der eine Jugendliche regelmässig während des Erklärens des Lehrers so laut redet, dass es den Lehrer stört. Ein Lehrer, der beide Ansätze kombiniert, könnte wie folgt vorgehen und in einem "unter vier Augen Gespräch" folgenden Dialog anreissen:
Beobachtung (GFK): “Ich habe bemerkt, dass du gerade mit deiner Tischnachbarin geredet hast, während ich erklärt habe”
Gefühle (GFK): “Ich bin frustriert.”
Bedürfnisse (GFK): “Mir ist wichtig, dass alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, in einer ruhigen Umgebung zu lernen.”
Bitten (GFK): “Könntest du bitte während meiner Erklärungen ruhig sein und deine Fragen oder Inputs am Ende und für alle hörbar aussprechen?”
Präsenz (Neue Autorität): Der Lehrer bleibt ruhig und präsent, ohne sich auf Machtkämpfe einzulassen.
Selbstkontrolle (Neue Autorität): Der Lehrer vermeidet es, laut zu werden oder den Schüler zu bestrafen.
Netzwerkbildung (Neue Autorität): Der Lehrer informiert die Eltern und andere Lehrer über das Verhalten der Schülerin und bittet um Unterstützung.
Wachsame Sorge (Neue Autorität): Der Lehrer zeigt der Schülerin, dass er sich um sie sorgt, indem er regelmässig nach ihrem Wohlbefinden fragt und ihm Unterstützung anbietet.
2. Ein Vater bemerkt und sein Kleinkind im Laden, das Kind schreit und wirft sich auf den Boden, weil es den Schokoriegel nicht haben darf. Mögliche Reaktionen des Vaters, wenn er mit Empathie nach GFK reagieren möchte:
Beobachtung/Bedürfnis (altersgerecht formuliert): „Du willst den Schokoriegel jetzt wirklich haben. Er wäre so lecker! Ich sage "nein".“
Gefühle benennen: „Du bist sehr wütend!“
Der Vater hat das Kind abgeholt. Als Bestätigung weint es weiterhin und wirft sich hin und her. Nun setzt der Vater die Prinzipien der Neuen Autorität ein, um in der Situation ruhig und standhaft zu bleiben, ohne in einen Machtkampf zu geraten. Anstatt ärgerlich zu werden oder das Kind zu ignorieren, bleibt er präsent und zeigt, dass er die Kontrolle über die Situation behält.
Präsenz zeigen: Er bleibt ruhig nebem dem Kind sitzen, nimmt ihn nicht sofort auf, sondern bleibt ihm zugewandt. Er signalisiert durch seine Haltung und Anwesenheit, dass er für ihn da ist und die Situation im Griff hat.
Deeskalation: Der Vater atmet tief durch und wartet einen Moment ab, bevor er erneut zum Kleinkind spricht. Er weiss, dass es Zeit braucht, bis es sich beruhigt. Er vermeidet es, mit Strafen oder Drohungen zu reagieren.
Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit: Auch wenn das Kind weiterhin weint, bleibt Thomas in seiner Entscheidung standhaft. Er gibt nicht nach und kauft den Schokoriegel nicht, aber er bietet dem Kind weiterhin emotionale Unterstützung.
Nach einigen Minuten beginnt das Kind sich etwas zu beruhigen, weil es merkt, dass sein Vater nicht wütend wird, sondern geduldig bleibt.
GFK mit Beobachtung und Gefühl (des Kindes): Vater: „Ich sehe, dass du dich jetzt ein bisschen beruhigt hast. Du warst wütend, weil du den Schokoriegel nicht bekommen hast, richtig?“
Kleinkind nickt oder bestätigt sonstwie.
Bedürfnis (des Vaters) äussern: „Ich weiss, dass du Schokolade magst. Heute möchte ich, dass wir keine Süssigkeiten kaufen, weil es für deinen Körper wichtig ist, auch mal Pausen zu machen.“
Bitte: „Wenn wir nach Hause kommen, können wir vielleicht Obst zusammen essen. Was hältst du davon? Kannst du mir jetzt helfen, die restlichen Sachen einzupacken?“
Das Kind ist jetzt eher bereit, sich auf den Vorschlag seines Vaters einzulassen. Es steht auf und nimmt seine Hand. Sie machen den Einkauf zusammen zu Ende.
Sollte das Kind noch nicht bereit sein und nochmals weinen, braucht es noch mehr Empathie und Zugewandtheit, sofern der Vater die Kapazität hat.
Fazit
Sowohl die Gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg als auch die Neue Autorität nach Omer bieten wertvolle Werkzeuge für Lehrpersonen und Eltern, um eine respektvolle und unterstützende Umgebung zu schaffen. Während GFK auf individueller Kommunikation basiert, setzt die Neue Autorität auf systemische Präsenz und Unterstützung. Eine Kombination beider Ansätze ist möglich und kann hilfreich sein. Wichtig ist, meiner Ansicht nach, schnell zu verbalisieren, was mich stört, denn je länger ich damit warte, umso grösser wird der Frust und umso schwerer fällt es mir, in der wohlwollenden Haltung der beiden Ansätze zu handeln. Aus diesem Grund empfehle ich auch, die Ansätze nicht nur für mein Gegenüber oder die Gruppe,die ich betreue, anzuwenden, sondern auch mir selbst gegenüber.
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